Lange galt RNA lediglich als Vermittler der Proteinsynthese; inzwischen ist klar: Die Moleküle übernehmen im Körper weit mehr Aufgaben. Im Rahmen des neuen Exzellenzclusters NUCLEATE untersuchen LMU-Forschende um Veit Hornung, wie RNA und DNA für neuartige Therapien und innovative Biotechnologien genutzt werden könnten.
Einige wissenschaftliche Erkenntnisse ebnen still und leise den Weg für Revolutionen. Kurz nach der Jahrtausendwende gingen die Biochemikerin Katalin Karikó und der Immunologe Drew Weissman einer rätselhaften Beobachtung nach: Warum löste im Labor hergestellte RNA heftige Abwehrreaktionen aus, während die körpereigene völlig harmlos blieb? Ihre Experimente führten zu einer entscheidenden Erkenntnis – natürliche RNA trägt kleine chemische Veränderungen, die verhindern, dass sie vom Immunsystem als fremd erkannt wird. Als Karikó und Weissman diese Veränderungen auf künstliche RNA übertrugen, gelang es erstmals, sie in Zellen einzuschleusen, ohne eine Immunreaktion zu provozieren. Niemand ahnte, dass dieses unscheinbare Ergebnis eines Tages die moderne Medizin verändern würde.
Der Mediziner und Biochemiker Veit Hornung erforscht, wie das Immunsystem Eindringlinge identifiziert und ausschaltet.
Doch in der Fachwelt wurden einige bereits hellhörig. Sie wähnten enormes medizinisches Potenzial darin, das Immunsystem auszutricksen, um Nukleinsäuren gezielt für medizinische Zwecke einzusetzen. Zu ihnen gehörte auch Veit Hornung, der zu jener Zeit als junger Assistent an der LMU war. Der Mediziner und Biochemiker untersuchte – damals wie heute –, wie unser Immunsystem Eindringlinge identifiziert und ausschaltet. „Eine wesentliche Komponente dieser Abwehr ist die Erkennung von Nukleinsäuren“, erklärt er. RNA und DNA, die beiden Haupttypen der Nukleinsäuren, dienen sämtlichen Organismen als Träger der Erbinformation, gewissermaßen als ‚Baupläne des Lebens‘.
mRNA gezielt nutzen
Dringen Krankheitserreger in den Körper ein, hinterlassen sie Spuren ihres Genoms oder ihrer Genexpressionsaktivität – also Reste von DNA- beziehungsweise RNA-Molekülen. Immunzellen erkennen diese Schnipsel fremder Erbinformation und bauen sie ab. Auch das eingangs erwähnte Biomolekül war eine bestimmte Form der RNA – eine sogenannte Messenger-RNA, kurz mRNA. Zellen nutzen sie als eine Art Bauanleitung für Proteine. Im Zellkern wird zunächst die genetische Information der DNA in mRNA umgeschrieben, bevor die Abschriften zu den sogenannten Ribosomen im Zytoplasma wandern, den ‚Proteinfabriken‘ der Zellen.
»Inzwischen weiß man, dass die Funktionen der RNA weit über das hinausgehen, was sie zur Herstellung von Proteinen beiträgt.«
Veit Hornung
Die Idee, über Nukleinsäuren gezielt in diesen Prozess einzugreifen, lag daher nahe: Könnte man Zellen künstlich mit mRNA oder ähnlichen Molekülen versorgen, ließen sich gewünschte Proteine herstellen – etwa um Krankheiten zu behandeln oder fehlende Eiweiße zu ersetzen. Doch die Umsetzung erwies sich als schwierig. Synthetische mRNA löste im Körper starke Immunreaktionen aus und wurde abgebaut, bevor sie wirken konnte.
„Das war lange ein Riesenproblem“, sagt Hornung. Der entscheidende Durchbruch kam, als Katalin Karikó und Drew Weissman zeigten, wie sich RNA chemisch so verändern lässt, dass sie keine Immunantwort mehr auslöst. Diese Entdeckung aus dem Jahr 2005 ebnete den Weg für mRNA-basierte Arzneimittel – auch wenn bis zu deren Entwicklung noch einige Jahre vergingen.
Weil nur rund zwei Prozent des Erbgutstrangs aus proteinkodierenden Genen bestehen, hatte die Fachwelt jahrzehntelang angenommen, dass ein Großteil der DNA keinen Zweck erfüllt. Sie wurde als ‚Junk-DNA‘, also ‚Müll-DNA‘, verunglimpft. Doch nach und nach stellte sich heraus: Ein Großteil dieser DNA-Sequenzen wird ebenfalls in RNA umformuliert. Man wurde stutzig: Warum schreiben unsere Zellen vermeintlich nutzlose DNA in RNA um? Versehentlich, wie manche argumentierten? Keineswegs.
„Inzwischen weiß man, dass die Funktionen der RNA weit über das hinausgehen, was sie zur Herstellung von Proteinen beiträgt“, sagt Hornung. Der Wissenschaftler hat den erstaunlichen ‚Karriereweg‘ von RNA aufmerksam begleitet und etliche eigene Erkenntnisse beigesteuert – ab 2008 als Professor für Klinische Biochemie an der Uni Bonn, seit 2015 als Lehrstuhlinhaber für Immunbiochemie am Genzentrum der LMU. „Es gibt RNA-Moleküle, die die Genexpression regulieren, und solche, die enzymatisch wirken und Reaktionen in der Zelle katalysieren – etwas, das man früher nur Proteinen zuschrieb“, so Hornung. „Daneben existieren Versionen, die als sekundäre Botenstoffe dienen, indem sie Signale innerhalb der Zelle weiterleiten und verstärken.“
»Wir möchten Nukleinsäuren aus drei Blickwinkeln betrachten: als Subjekt, als Objekt und als Werkzeug.«
Veit Hornung
Forschende entdeckten außerdem vergleichsweise lange RNA-Stränge, die als Gerüstmoleküle fungieren und Proteinkomplexe zusammenbringen. Und sie stießen auf ungewöhnlich kurze Varianten, die sie zunächst für die Gene selbst hielten und nicht für deren Abschriften. Die erste derartige mikroRNA, kurz miRNA, fand man zufällig im Fadenwurm C. elegans, einem klassischen Modellorganismus der Entwicklungsbiologie. Inzwischen kennt man alleine beim Menschen rund 2000 Varianten. Üblicherweise reguliert miRNA die Proteinsynthese.
Die Vielzahl an Entdeckungen der letzten zwei Jahrzehnte hat einen regelrechten Paradigmenwechsel in der RNA-Forschung ausgelöst – manche sprechen gar von einer ‚RNA-Revolution‘, wie die beiden Biologinnen Jeanne Lawrence und Lisa Hall von der University of Massachusetts Chan Medical School, USA. In einem Science-Artikel aus dem Jahr 2024 begründen die beiden ihre markante Wortwahl damit, dass man langlebige RNA-Moleküle als feste Bestandteile von Nervenzellen nachgewiesen hatte. Bis dahin galt jegliche RNA als kurzlebig. Eine derartige Beständigkeit eröffnet den Molekülen offensichtlich eine ganze Palette an möglichen weiteren Funktionen und Wirkmechanismen. Viele davon sind noch gar nicht identifiziert.
Vor allem in der klinischen Forschung hat dieses neue Verständnis ein Umdenken bewirkt. Das liegt unter anderem daran, dass nicht-kodierende RNAs auch bei Krankheiten eine Rolle spielen. Sie beeinflussen zum Beispiel zelluläre Prozesse, die bei der Entstehung von Krankheiten wie Krebs beteiligt sind. Damit werden sie zu möglichen Angriffspunkten für Medikamente – oder sogar selbst zu Wirkstoffen.
Um die Erforschung von RNA und DNA weiter voranzutreiben, hat Hornung zusammen mit Kolleginnen und Kollegen erfolgreich den Exzellenzcluster NUCLEATE eingeworben – einen der neuen Spitzenforschungsverbünde in Deutschland. Das Programm startet 2026 an den drei Hauptstandorten LMU München, TU München und Uni Würzburg sowie weiteren Partnerinstitutionen.
Die Forschungsstrategie ist dabei vollkommen neu gedacht: „Wir möchten Nukleinsäuren aus drei Blickwinkeln betrachten: als Subjekt, als Objekt und als Werkzeug“, sagt Hornung. Als ‚Subjekt‘ führt die Nukleinsäure eine Funktion aus, die sich auf die Zelle auswirkt – zum Beispiel reguliert sie die Genexpression oder beschleunigt eine biochemische Reaktion. ‚Objekt‘ bedeutet, dass etwas mit ihr geschieht – sie wird chemisch modifiziert, verarbeitet oder abgebaut. „Es gibt zum Beispiel Mechanismen, die die Nukleinsäuren verändern oder reparieren“, erklärt Hornung. Mit NUCLEATE wollen die Beteiligten in diesen beiden Bereichen vor allem Grundlagenforschung betreiben, um etwa bislang unbekannte Funktionen von RNA sowie DNA und damit verbundene Prozesse in Zellen zu entschlüsseln.
Die dritte Kategorie ‚Werkzeug‘ bezeichne schließlich „die Nutzung dieser Funktionen für praktische Anwendungen“, so Hornung. Dazu zählen Therapeutika auf Basis synthetischer RNA- und DNA-Moleküle, die Prozesse in Zellen gezielt beeinflussen – ebenso wie innovative Technologien, etwa die Genschere CRISPR-Cas. Grundlage des Verfahrens ist ein natürliches Abwehrsystem von Bakterien, mit dem sich DNA präzise manipulieren lässt. „Wir wollen weitere CRISPR-Mechanismen entdecken und ihr Potenzial erschließen“, sagt Hornung. Die Vision: das Erbgut direkt im Körper zu korrigieren, um genetische Krankheiten zu heilen. Erste Ansätze existieren bereits, NUCLEATE soll diese weiter vorantreiben. Hinzu kommen computerbasierte Methoden: „Mithilfe von KI möchten wir zelluläre Abläufe besser verstehen und vorhersagen, wie sich bestimmte Veränderungen auf die Funktion der Zelle auswirken“, erzählt Hornung.
Zwar liegt der Fokus des Exzellenzclusters NUCLEATE auf Grundlagenforschung – doch die Brücke zur Anwendung ist von Beginn an mitgedacht. „Wir haben gezielt Kolleginnen und Kollegen integriert, die klinisch-translational arbeiten und neue therapeutische Konzepte entwickeln“, sagt LMU-Forscher Hornung. „Ein entscheidender Schritt ist zum Beispiel die gezielte Zustellung von RNA-Molekülen in die richtigen Zellen“, so Hornung. In NUCLEATE werden daher neue Plattformen entwickelt, mit denen sich kleine regulatorische RNAs, etwa siRNA, gewebespezifisch transportieren und freisetzen lassen. Diese innovativen Delivery-Konzepte sollen dazu beitragen, RNA-Therapien wirksamer und sicherer zu machen – ein Schlüsselfaktor für ihren zukünftigen klinischen Einsatz.
Wohin die Reise am Ende wirklich geht, ist aber nicht unbedingt abzusehen – man denke etwa an die mRNA-Technologie. „Anfangs hat niemand an die Methode geglaubt, sie wurde quasi im ‚Keller‘ entwickelt.“ Doch die jahrzehntelange Grundlagenarbeit zahlte sich aus, als ein Virus die Welt in Atem hielt. Die erste therapeutische RNA-Anwendung wurde entwickelt: mRNA-Impfstoffe. Diese bringen die Zellen dazu, das für das Coronavirus typische Spike-Protein herzustellen. So lernt das Immunsystem den Erreger kennen, bevor es zu einer Infektion kommt. Die Folge: Eine etwaige Erkrankung verläuft deutlich milder.
»Die mRNA-Technik hat ein enormes therapeutisches Potenzial.«
Veit Hornung
Dieses Prinzip könnte aber nicht nur präventiv funktionieren: Geforscht wird etwa daran, wie sich das Immunsystem mittels mRNA-Therapie auf Tumorzellen abrichten lässt. Ferner sind mRNA-Ansätze bei genetischen Erkrankungen denkbar, bei denen ein bestimmtes Protein fehlt oder fehlerhaft ist, zum Beispiel bei Mukoviszidose oder Stoffwechseldefekten.
„Die mRNA-Technik hat ein enormes therapeutisches Potenzial“, denkt Hornung. Das fand übrigens auch das Nobelpreis-Komitee: Für die Entwicklung der Grundlagen der mRNA-Technologien erhielten die ungarisch-US-amerikanische Biochemikerin Katalin Karikó und der US-amerikanische Immunologe Drew Weissman 2023 den Nobelpreis für Medizin. Die RNA-Forschung hat also die moderne Medizin bereits verändert, doch die wahre RNA-Revolution könnte gerade erst beginnen.
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